Nils Kauertz: Mein Studienaufenthalt in den USA

Wer mit dem Gedanken spielt, ein Auslandsjahr in den USA einzulegen, dem möchte ich mit diesem Erfahrungsbericht ein paar Denkanstöße geben. Während des Schuljahres 2000 bin ich für knapp 12 Monate in den Vereinigten Staaten gewesen. Nachfolgend schildere ich einige meiner Eindrücke, die stellvertretend für meine vielfältigen Erlebnisse stehen.
Obwohl mein Aufenthalt in den USA von mir und meinen Eltern sorgfältig geplant zu sein schien, war die erste Erfahrung, die ich als Austauschschüler gemacht habe, leider eine schlechte. Alles begann in Tennessee. Meine damalige Gastfamilie, die Bakers, waren Mitglieder der sogenannten Pentecostals, was übersetzt soviel wie Pfingstjünger heißt. In Deutschland würde man eine Gemeinde wie diese als Sekte bezeichnen, und selbst für Amerika gelten ihre Ansichten als sehr extrem.
Für einen Pentecostal ist es Pflicht, etwa sechs Stunden pro Woche in der Kirche zu verbringen. Auf die Frage, ob dies auch für mich gelte, antwortete meine Gastmutter: „Solange du in meinem Haus wohnst, gehst du auch in meine Kirche.“
Ein besonderes Merkmal dieser Religion ist auch, dass die Gläubigen auf einer bestimmten Ebene ihres Glaubens (die es zu erreichen gilt), anfangen, merkwürdige Worte aus einer anderen Sprache vor sich hinzuflüstern oder zu schreien. Als ich dies zum ersten Mal sah und nachfragte, warum sie das tun und was sie sagen, wurde mir geantwortet, dass der heilige Geist durch sie spreche, in einer Sprache, die Menschen nicht verstehen könnten.
Des weiteren zeichnete sich diese Gemeinschaft durch verschiedenste merkwürdige Regeln aus. Frauen war es zum Beispiel untersagt, sich die Haare zu schneiden und Hosen zu tragen. Männer durften im Gegenzug keine langen Haare haben und keine kurzen Hosen tragen. Der Genuss von Alkohol ist für einen Pentecostal undenkbar. Selbst beim Kochen darf man ihn nicht benutzen. Wie weit diese Regel geht, habe ich am ersten Tag erfahren, als meine Gasteltern ihr Geschenk, mit Rum gefüllte Pralinen, zwar probierten, sie dann aber auch wieder kurzerhand ausspuckten.
Meine Schule in dieser ersten USA-Phase, die Christian Life Academy, war dieser Kirche direkt unterstellt. Jeder Unterrichtstag begann mit einem Schwur auf die amerikanische Flagge und die Bibel. Danach wurde ein Zettel mit einer Frage verdeckt aus einem Kasten gezogen. Die Zettel werden am Anfang des Schuljahres von den Schülern abgegeben und beinhalten Fragen wie z.B.: „Wann kommt der Antichrist?” oder „Was zählt als Sex vor der Ehe?”. Der Lehrer, der wahrscheinlich mehr eine Mischung aus Pastor, geistigem Führer und einem Hauch von Seelsorger war, versuchte diese Fragen dann zu beantworten. Für mich, der eine weltoffene, liberale Erziehung genossen hat, waren die Antworten meist absolut weltfremd.
Alle 60 Schüler dieser Schule saßen gemeinsam in einem Raum, jeder abgetrennt in einer Art Box. Statt Frontalunterricht durch einen Lehrer oder Gruppenunterricht, wie ich es kannte, wurden dann in Einzelarbeit Hefte durchgearbeitet. Diese waren mehr Gehirnwäsche als Bildung. Freies Denken? Ein absolutes Fremdwort. In den Heften für Biologie wurde die Schöpfungstheorie propagiert nach dem Prinzip: „Gott hat alles erschaffen, Ende.“ Im Mathematikheft tummelten sich zwischen mathematischen Formeln Bibelzitate und Glaubensparolen. Das Niveau war eines Gymnasiasten einfach nicht würdig. Die anderen drei deutschen Schüler auf dieser Schule und ich gehörten nach circa einem Monat zu den absolut besten.
Bei Ungehorsam wurde dort auf ein in Deutschland schon längst undenkbares Mittel zurückgegriffen: zur Prügelstrafe mit dem Paddel. (Allerdings waren wir Austauschschüler von dieser Regel ausgenommen).
Ich habe dort zwar nette, aber weitgehend weltfremde Menschen kennengelernt. Mir wurden Fragen gestellt wie z.B., ob es in Deutschland Autos gibt oder ob wir unsere Kleidung in einem Brunnen in der Stadtmitte waschen (kein Scherz!).
Es staute sich langsam auf, doch irgendwann wurde es mir alles zu viel. Ich hatte das Gefühl, nur von meinen Gasteltern aufgenommen worden zu sein, damit sie mich zu ihrem Glauben bekehren konnten. Auf die Frage, ob dies so wäre, bekam ich als Antwort: „Es ist Satan, der dich das glauben lässt”.
So entschied ich mich nach etwa drei Monaten zu gehen. Warum ich so lange gezögert habe? Erst einmal war alles so neu, dass ich gar nicht richtig wahrgenommen habe, was eigentlich genau um mich herum passierte. Außerdem wollte ich das Beste aus meiner Situation machen. Doch irgendwann kam ich nicht weiter mit meinen Bemühungen. Ich hatte nur eine Wahl: eine neue Familie oder zurück nach Deutschland.

Durch das große Engagement meiner Eltern (mein Vater hat mich besucht, um sich selber ein Bild über meine Situation zu machen) war es mir dann doch möglich, in den USA zu bleiben und in eine neue Gegend, zu einer neuen Familie zu ziehen. Dies tat ich zu dieser Zeit mit gemischten Gefühlen. Zum einen hatte ich Angst, ein derartiges Fiasko noch ein zweites Mal zu erleben, zum anderen war ich natürlich froh, dass ich eine zweite Chance erhalten hatte.
Schließlich kam ich bei einer Bekannten meiner Tante in Pyllesville / Maryland unter. Auf Anhieb verstand ich mich sehr gut mit meiner neuen Familie, den Debyes. Nordulf, mein Gastvater, ist Professor an der Towson University, und seine Frau Irene eine Deutsche, die an derselben Uni beschäftigt ist. Obwohl Nordulf auch akzentfreies Deutsch spricht, haben wir zu Hause nur Englisch geredet. Auch die Regeln glichen wahrscheinlich eher einer deutschen als einer amerikanischen Familie. Ich ging auf eine große, öffentliche Schule, an der es mühsame drei Monate dauerte, bis ich mich eingelebt und auch an den neuen Akzent gewöhnt hatte, aber es war die Sache wert! Meine Schule, die Northern Harford High School, übertraf meine Erwartungen bei weitem. Es gibt dort eine Fülle an Freizeit- und Sportangeboten, hinter der sich die Schulen hierzulande verstecken können.
Im Biologieunterricht habe ich schon am ersten Tag eine echte Schlange in den Händen gehalten. Auch weiterhin überzeugte mich der Unterricht durch seine Praxisnähe. Sobald die Sonne schien, wurde auch mal kurzerhand im nahegelegenen Wald oder an der zur Schule gehörenden Teichlandschaft unterrichtet. Biologie zum Anfassen!
Die Unterrichtsräume sind mit PCs, im Falle der Biologieräume auch mit Beamern, Leinwänden und Surroundsound-Anlagen hervorragend ausgestattet.
Der Wirtschaftsunterricht war besonders interessant. Wir gründeten dort ein Unternehmen und verkauften dann unser selbstständig designtes Produkt, ein T-Shirt. Als erstes wurde ein Vorstand gewählt und alle Schüler wurden in Abteilungen wie Personal und Marketing eingeteilt. Danach bekam jeder ein Aktienpaket, seinen eigenen Anteil an unserer Firma. Der Vorstand bekam natürlich das größte Paket. Die anderen Aktien wurden an der Schule verkauft, um das Drucken der T-Shirts zu finanzieren. Als wir dann alle unsere T-Shirts verkauft hatten, die besonders bei den jüngeren Schüler(inne)n der absolute Renner waren, lösten wir die Firma auf und der Gewinn wurde für die Aktienbesitzer ausgeschüttet. In meinem Fall waren das immerhin ganze 17 US-Dollar.
Des weiteren waren die sportlichen Ereignisse etwas ganz Besonderes. Für das Endspiel des Football-Schulteams z.B. kamen alle Schüler(innen) in den Farben der Schule bemalt und gekleidet. School spirit, in Deutschland undenkbar!
In dieser Zeit habe ich wirklich tolle Freunde gefunden, von der angeblichen Oberflächlichkeit der US-Amerikaner habe ich jedenfalls nichts gemerkt. Mein bester Freund Mike holte mich jeden Tag zu Hause ab, obwohl ich eine halbe Stunde entfernt von allen anderen wohnte. Nach der Schule wurde dann z.B. Lacrosse gespielt (der Volkssport in Maryland), eine Mischung aus Football und Hockey, oder man traf sich mit anderen Schulfreunden. Da sich der Großteil der „Seniors” (letzter Jahrgang in Highschools der USA) gut miteinander verstanden hat, kam es oft vor, dass wir bei solchen Treffen um die 20 - 30 Leute waren. Die Eindrücke und Erfahrungen, die ich dort gesammelt habe, werde ich nie vergessen. Ich durfte auch an all den Abschlussfeiern der Oberstufe teilnehmen. Ein ganz besonderes Erlebnis war dabei natürlich die „Prom“, der Abschlussball, zu dem jeder Junge im Smoking und jedes Mädchen im Cocktailkleid erscheinen und zu dem man mit den bekannten Stretch-Limousinen fährt. Es war mit die beste Zeit meines Lebens, und ich möchte sie nie mehr missen.
Man sieht also, im „Land der unbegrenzten Möglichkeiten” ist wirklich alles möglich! Obwohl ich am Anfang großes Pech hatte, war dies mit eine der nützlichsten Erfahrungen meines Lebens. Ich habe dort vor allem gelernt, Dinge in meinem Leben zu schätzen und nicht als selbstverständlich anzusehen. Mein großes Glück war der mir mögliche Wechsel von der einen Familie in die andere. Er hat mir ein anderes, liberales und atemberaubendes Amerika gezeigt.
Jedem, dem sich diese Möglichkeit des Aufenthaltes bietet, empfehle ich, sie auch zu nutzen. Man hat die Chance, ein neues Land, eine neue Kultur, und ja, ich gehe sogar so weit zu sagen, ein neues Leben kennenzulernen. Mehr Selbstständigkeit, Selbstvertrauen und tolle Englischkenntnisse sind dabei ein netter Nebeneffekt.
Natürlich geht man mit diesem Schritt auch ein Risiko ein. Deshalb hier ein paar Tipps, wie man das Risiko etwas verringern kann: Frühes Anmelden ist Pflicht, da man dann noch die Wahl zwischen verschiedenen Familíen hat. Vor allem sollte man sich vorher nach den Gewohnheiten der in Frage kommenden Familie erkundigen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Schule, wobei man nur bei Privatschulen skeptisch sein muss. Diese werden in Amerika kaum vom Staat kontrolliert und können daher machen, was sie wollen. Es lohnt sich auch, sich über den Bundesstaat zu informieren, in dem die Familie lebt. Grundsätzlich sind einige Staaten wie z.B. Maryland, Kalifornien oder Vermont liberaler und europäischer eingestellt als z.B. Tennessee oder Texas. Information ist also, wie so oft, alles.
Ach ja, wer Angst hat, seine Freunde für ein Jahr nicht mehr zu sehen, oder denkt, er würde etwas verpassen, dem will ich noch Folgendes sagen: Als ich nach einem Jahr wieder nach Kaldenkirchen kam, hatte ich große Erwartungen. Ich war gespannt, was in meiner Abwesenheit alles passiert war und was meine Freunde mir Neues zu berichten hatten. Zu meiner Enttäuschung musste ich feststellen, dass sich in meiner Heimat eigentlich nichts wirklich verändert hatte, wohl aber in meinem Leben.

 

Nils Kauwertz, Abiturjahrgang 2004