Alexander Schwan in Maastricht

Ein Leben im Oranje-Rausch:
Studieren an der Universiteit Maastricht in den Niederlanden

Dienstag, 23. August 2004, 11 Uhr: „Beginn der INKOM 2004 in Maastricht, der größten alljährlich stattfindenden Einführungsparty für neue Studenten in den Niederlanden. Vor mir liegen vier Tage voller Spiel, Spaß und Party ..., bevor dann der Ernst des Lebens beginnt.“
Donnerstag, 23. Dezember 2004, 13 Uhr: „Der lang ersehnte Beginn der Weihnachtsferien und das Ende des zweiten Blocks mit dem Exam im Fach Microeconomics. Hinter mir liegen die vier stressigsten und anstrengendsten Monate meines Lebens.“
-So könnten die typischen Kommentare eines neu beginnenden Studenten an der Universiteit Maastricht (UM) zu Beginn und zum Ende des ersten Studienteils aussehen. Für viele mag der Kontrast zwischen diesen beiden Einträgen eher abschreckenden Charakter haben. Aber keine Angst, sooo schlimm ist es nicht…

Anfang des Jahres 2004 entschloss ich mich für ein Studium im Fach Economics an der UM in den Niederlanden. Die Gründe lagen für mich klar auf der Hand. Ich wollte eher an einer kleineren Universität studieren als an einer großen deutschen Uni mit überfüllten Hörsälen und unpersönlichen Professoren. Da ich meinen Studiengang im Bereich Wirtschaft wählen wollte, was auf meine Vorlieben in den Bereichen Mathematik, Politik und Ökonomie zurückzuführen ist, wären für mich in Deutschland nur die meines Erachtens nach völlig überlaufenen Standardstudiengänge BWL und VWL in Frage gekommen. Der Wunsch jedoch nach einem nicht nur in Deutschland hoch angesehenen Abschluss mit zukünftig guten Berufsaussichten in der Wirtschafts-, Politik- und Managementbranche warf bei mir in Bezug auf die heimischen Unis und die damit verbundenen Chancen und Risiken einige Fragen auf und ließ mich zwangsläufig über den „deutschen Tellerrand“ hinausschauen. Die UM mit ihren drei internationalen, englischsprachigen Wirtschaftsstudiengängen International Business (Richtung BWL), Economics (Richtung VWL) und Econometrics (eher Richtung Wirtschaftsinformatik) hingegen bot für mich die passenden Alternativen. Der bis nach Deutschland reichende Ruf als beste niederländische Uni mit internationalen Top-Standards (wozu die UM zum Ende des Jahres 2004 zum dritten Mal hintereinander gewählt wurde) in der schönsten und ältesten Stadt der Niederlande half natürlich auch, etwaige Zweifel abzubauen. Ebenfalls überzeugte mich das vollkommen andere Lernsystem an der UM im Gegensatz zu deutschen Universitäten.
An vielen niederländischen Unis, so auch in Maastricht, wird das sogenannte Problem Based Learning, kurz PBL-System, praktiziert. Hierbei wird der Hauptteil des Lernstoffes nicht in Vorlesungen im Hörsaal erarbeitet (den sogenannten Lectures), sondern in Kleingruppen von 10-15 Leuten (den Tutorial-Groups). In diesen Gruppenstunden behandeln die Studenten unter der Leitung eines ehemaligen Studenten (des Tutors eben) die Probleme, indem sie zunächst zu einem vorgegebenen Problem eine Vorbesprechung haben und aus dieser verschiedene Lernaufträge und -ziele mit nach Hause nehmen. Die Lernaufträge sind dann mit Hilfe der komplett englischsprachigen Fachliteratur, durch Internetrecherche etc. in Eigenarbeit zu erfüllen und werden in der nächsten Tutorial mit der Gruppe nachbesprochen, indem jeder seine Ergebnisse vorträgt.
Anhand dieses Lernsystems wird die Kommunikationsfähigkeit, aber auch die Selbstständigkeit eines jeden Studenten explizit gefördert.
Ein anderer Grund, weshalb ich mich entschloss, in Maastricht mein Studium zu beginnen, war die Aussicht, nach schon drei Jahren den internationalen Abschluss Bachelor of Economics (gleichzusetzen mit dem deutschen Diplom) oder nach einem weiteren Jahr den Master of Economics in der Tasche zu haben, wobei ein halbes Jahr der Studienzeit an einer der über 50 weltweiten Partner-Unis der UM verbracht worden sein muss.

Die Anmeldung für die Uni erfolgte reibungslos. Da es für die meisten Studiengänge in den Niederlanden keinen Numerus Clausus gibt und für die englischsprachigen Studiengänge keine Sprachprüfung von EU-Studenten verlangt wird, reichte also die normale schriftliche Bewerbung an der Uni aus, um sich anzumelden.(Wer allerdings vorhat, in Maastricht International Business zu studieren, muss sich hierfür bis spätestens Mitte März gemeldet haben, da aufgrund der großen Nachfrage hier ein Losentscheid über die Vergabe der Studienplätze stattfindet).
Schon bald wurden die für die Niederlande typischen Studiengebühren fällig. Für deutsche Studenten betragen diese ca. 1400 Euro im Jahr, wobei mehr als die Hälfte der Summe von EU-Studenten durch einen einfachen schriftlichen Antrag bei der IB-Groep, der niederländischen Behörde für den Einzug und die Verteilung von Studiengeldern, zurückerstattet werden kann.
Nach all diesem „Papierkram“ noch vor Beginn der eigentlichen Studienzeit, die in den Niederlanden traditionell am 1. September beginnt, fand die eingangs schon erwähnte INKOM 2004 statt, die Einführungsveranstaltung für ankommende Studenten in Maastricht, welche auch überall sonst in den Niederlanden zur Tradition gehört. Bei dieser Veranstaltung stellen sich alle Studentenvereinigungen Maastrichts vor und buhlen in Form von unterschiedlichen Präsenten und Offerten um die Gunst der Neu-Studenten. Die allabendlich ausgetragenen Partys der Vereinigungen, auf die ganz Maastricht immer ein ganzes Jahr lang wartet, gehören ebenso zum Programm wie die tagsüber stattfindenden Spielchen und Rundführungen durch die schmucke Altstadt Maastrichts mit den verwinkelten Gässchen und den typischen Studentenkneipen.
Danach aber begann der so oft zitierte „Ernst des Lebens“, der erste Studientag war gekommen… und schon die Begrüßung durch den Dekan der UM zeigte mir, dass die nächste Zeit sicherlich kein Pappenstiel sein würde. In gewollt abschreckender Art warnte er die 500 neuen Economics-Studenten im voll besetzten Hörsaal davor, zu lässig an das Studium heranzugehen. Wer nicht mindestens 30 Stunden seiner Freizeit in der Woche für das Studium investieren würde, könne direkt seine Sachen packen und wegen der gen Null laufenden Erfolgsaussichten sich lieber eine andere Uni suchen.
Dieser Satz, der von vielen zu diesem Zeitpunkt sicherlich als übertrieben eingeschätzt wurde, stellte sich aber schnell als ziemlich realistische Einschätzung der alltäglichen Zeiteinteilung und damit des erforderlichen Einsatzes heraus.
Das Studienjahr in den Niederlanden ist an den meisten Unis nicht – wie in Deutschland üblich – aufgeteilt in zwei Semester, sondern in vier Quartester (oder Blocks) á 8 Wochen, an deren Ende jeweils eine schriftliche Prüfung (Exam) steht. Das Exam setzt sich zum einen aus einem offenen Teil zusammen, bei dem Fragen mit Hilfe der Lehrbücher und vorher zusammengestellter Notizen frei beantwortet werden müssen; der andere Teil besteht aus 60-80 multiple choice –Fragen.
An der UM werden in jedem Block im ersten Jahr zwei Fächer unterrichtet, was als negativen Aspekt natürlich immense Bücherkosten nach sich zieht. Trotz der wirklich hervorragenden Ausstattung der erst kürzlich neu erbauten Bibliothek müssen vor allem zu Beginn des Studiums ca. alle zwei bis drei Monate neue Bücher im Wert von etwa 300 Euro leider selber angeschafft werden.
In den ersten Wochen des Studiums lernte ich das PBL-System und meine Tutorial-Group für den ersten Block kennen, wobei die Gruppen für jeden nächsten Block neu zusammengewürfelt werden. Mit dabei waren sechs Deutsche (der Anteil der deutschen Studenten an der Wirtschaftsfakultät beträgt fast 50%!), vier Niederländer, zwei Chinesinnen, ein Thailänder und ein Türke. Unterrichtet wurden wir von einem Ungarn. Die Bezeichnung „internationale Uni“ bedarf, glaube ich, keiner weiteren Erklärung.
Meine anfänglichen Bedenken bezüglich der eventuell auftretenden Probleme mit der englischen Sprache, in der das komplette Studium unterrichtet wird, schwanden aber mit der Zeit zunehmend (ich muss zugeben, dass ich zu WJG-Zeiten sicherlich nicht immer die Oberleuchte im Englischunterricht war…). Zum einen haben alle Studenten zu Beginn die gleichen Sprachprobleme, zum anderen aber erlernt man automatisch das für das Studium relevante Vokabular durch das Lesen der Literatur und den sprachlichen Kontakt mit den Kommilitonen.
Die Schnelligkeit, mit der aber im Stoff vorangegangen wurde, ist mit der in der „normalen“ Schule überhaupt nicht zu vergleichen. Obwohl mein Stundenplan für jeden Tag nur zwei Stunden(!) Vorlesung oder Gruppenstunde vorsah, war ich zu Hause jeden Tag mindestens noch vier Stunden mit dem Lesen von Büchern oder dem Schreiben von Texten beschäftigt. Wenn man von einem auf den anderen Tag mal 100 Seiten englische Fachliteratur lesen musste, war das vollkommen normal. Hinzu kam die tägliche Fahrtzeit von Nettetal nach Maastricht und zurück (ca. 75 Minuten pro Strecke), da ich mich entschlossen hatte, zunächst einmal hier wohnen zu bleiben.
Nachdem aber die ersten Prüfungen absolviert waren und man sich an den Rhythmus gewöhnt hatte, fiel einem der Umgang mit dem Tempo schon etwas leichter, der Stress allerdings blieb weiterhin und ist auch noch bis heute geblieben.
Einige Studenten haben schon aufgrund des straffen Ablaufs, aber auch aufgrund der strikten Studienregeln die Segel gestrichen. Wer sich nicht aktiv an den Gruppenstunden beteiligt, muss zusätzliche Aufgaben lösen bzw. wird nicht zum Exam zugelassen. Wer beim Exam einmal durchfällt, darf die Prüfung ein zweites Mal machen. Wenn diese dann noch einmal misslingt, heißt es „ Auf Wiedersehen!“. So kommt es natürlich zwangsweise zu der sehr hohen Durchfallquote von 35%. Allerdings ist bei diesen Umgangsformen auch ein hohes und angenehmes Leistungsniveau garantiert, da es nur die wirklich guten Studenten bis zum Ende schaffen und ihr Studium in drei Jahren absolvieren können.

Schülerinnen und Schülern des WJG, die mit dem Gedanken spielen, in den Niederlanden – und besonders in Maastricht – zu studieren, sei gesagt, dass sie sich auf eine wirklich lernintensive und stressige Anfangszeit einstellen müssen, bei der man sich oft fragt, wie man das Ganze eigentlich in der gegebenen Zeit bewältigen soll. Die Ängste bezüglich der englischen Sprache sind größtenteils unbegründet, da man sich wirklich im Laufe der Zeit daran gewöhnt, Englisch zu sprechen. Im Englisch-Schreiben wird man zudem extra unterrichtet. Sprachkenntnisse im Niederländischen sind generell nicht notwendig, sicherlich können sie aber, was den Umgang mit den niederländischen Kommilitonen und die Kommunikation innerhalb der Stadt betrifft, nicht schaden. Was man aber auf jeden Fall mitbringen muss, um einen der Wirtschafsstudiengänge erfolgreich zu beginnen, sind fundierte mathematische Kenntnisse in Differentialrechnung, Kurvendiskussion etc. Zudem muss man sich in Eigenregie noch einen Großteil Statistik beibringen, der auf dem Gymnasium nicht gelehrt wurde. Die meisten Studenten scheitern gerade wegen fehlender Mathefähigkeiten.
Wenn ihr glaubt, diese Voraussetzungen größtenteils zu erfüllen, und ihr den Schritt nach Maastricht wagen wollt, erwarten euch eine technisch und literarisch auf höchstem Niveau ausgestattete Uni (fast das komplette Studium wird über Internet und PC abgewickelt, die Bibliothek ist auf dem neuesten Stand, sowohl was die Ausleihe betrifft als auch die Ausstattung vor Ort) sowie ein wirklich bemühtes Lehrpersonal, das sich um jeden Studenten einzeln kümmert. Dies hängt damit zusammen, dass die Gelder des Staates je nach Anzahl und Qualität der in einem Jahr errungenen Abschlüsse an die jeweiligen Unis verteilt werden, so dass es natürlich das Ziel einer jeden Uni ist, möglichst viele Studenten auf hohem Niveau zu einem Abschluss zu führen.
Falls ihr euch zu einem Umzug nach Maastricht entscheidet, solltet ihr euch spätestens Mitte Juli um ein Zimmer bemühen, alle Zimmerangebote in Maastricht und (meist belgischer) Umgebung sind unter www.kamerburo.net abzurufen.
Euer Leben wird sich in den ersten Monaten komplett ändern, doch man lernt viele neue, interessante Menschen kennen. Und wenn man das Ziel des besten niederländischen, international hoch angesehenen Abschlusses mit hervorragenden Berufsaussichten vor Augen hat, weiß man, wofür man dies tut…
Bis bald in Maastricht!
Alexander Schwan, Abiturjahrgang 2004