Max Zanders: Über die Zeitzonen und um den Kopf geschnallte Gürtel

Ich stand also auf, als der Schlussakkord der Filmmusik, die wir in einer kleinen Orchesterbesetzung zum Besten gegeben hatten, beinahe noch nicht ganz verhallt war, gab meine Geige hastig an Tom weiter und lief unter dem
anhaltend begeisterten Applaus des überfüllten Theaters zu einer Nebenbühne, wo mir ein E-Bass förmlich zugeworfen wurde; dann zurück ins Rampenlicht. David mit der Ringo-Starr-Frisur am Schlagzeug, James „Jimi“ Chadwick mit angeklebtem Papierschnurrbart an der E-Gitarre und „that German guy“, also ich, am Bass ließen die Gebisse der Großeltern zu Led Zeppelin’s „Moby Dick“ klappern.
Es war die langersehnte Nacht des House Music Competition im buntbeleuchteten Theatersaal eines Kinos in der Innenstadt von Peterborough, England. Die vier Houses, also vier Gruppen, in eine von denen jeder Schüler beim Beginn seiner Bildung an der King’s School zwecks besserer Organisation und gesunden Konkurrierens der Schüler untereinander eingeteilt wird, eiferten an diesem Abend musikalisch gegeneinander. Im Publikum die Lehrerinnen in feinen Abendröcken, die Schüler(innen) in Schuluniformen aus bordeauxroten Blazern, schwarzgrauen Röcken und Hosen vom Bühnengeschehen absorbiert, die Gesichter der Eltern und Großeltern hinter salvenartig aufblitzenden Kameras verschwindend, durch welche sie wohl den Großteil des Abends verfolgten. Jedes House hatte ein kleines Orchester, zwei Chöre und eine Band zusammengestellt. Am Ende wurde unser House Dritter, und der Jubel, nicht Letzter geworden zu sein, übertönte den der Sieger um Weiten.


Anfang September 2003, mehrere Wochen vor dem Wettbewerb, kam ich mit meinem Chauffeur und meinem persönlichen Kofferträger im kleinen Dorf Newborough, einige Meilen bzw. eine Dreiviertelstunde mit dem Bus außerhalb von Peterborough gelegen, an. Als der Chauffeur bereits dachte, er habe sich verfahren, und der Kofferträger versuchte, sich mit Kompass und Zirkel zu orientieren, da plötzlich tauchte am Ende der endlosen Landstraße, irgendwo am Horizont, am Rande der Zivilisation ein dunkler Punkt auf, wurde größer
und formte sich langsam zu einem Bauernhof. Das war die Moor Farm der Familie Jacobs, mit der ich vier Monate zusammen leben würde. Mein Vater stellte also den Wagen aus, mein Bruder nahm die Koffer und so kam uns auch schon Judith, meine Gastmutter; mit zerzausten Locken, mit strahlendem Lächeln, etwas aufgeregt entgegen. Klar, denn ich war der erste student, den sie bei sich aufnahm, aber mein Blutdruck war, weil es auch für mich eine neue Welt war, noch um ein Vielfaches höher. Am Abend, als alle, samt Gastvater Andrew und der zahlreichen Jacobs-Nachkommenschaft aus Jessica, Robert, Pamela und Rosie, zusammensaßen, gab es ein traditionelles English dinner, was entgegen bestimmten Gerüchten toll schmeckte. Mehr und mehr lernte ich die Jacobs kennen, ihre etwas chaotische, aber dennoch wundervolle Art; im Dorf scherzte man, wegen ihrer chronischen Unpünktlichkeit, dass an der Moor Farm einfach eine andere Zeitzone herrsche.
So kam dann auch schon der erste Schultag, zwar ohne Schultüte, dafür in echter englischer Schuluniform, die wir tags zuvor im schuleigenen Bekleidungsladen gekauft hatten. Eine junge Lady aus Newborough in meinem
Alter führte mich im alten Gemäuer der Schule umher und stellte mich ein paar Leuten vor. Das Gespräch fiel anfangs natürlich etwas schwer, was sich jedoch mit der Zeit und ohne besonderes Bemühen selbstredend besserte. Immerhin war die sprachliche Herausforderung in der Entscheidung, das kleine Abenteuer anzutreten, ein wesentlicher Anstoß gewesen, wenn auch ein vergleichbar geringerer, als vielmehr die Bekanntschaft mir neuer Leute und anderer Verhältnisse. Daher wunderte es mich zunächst, dass an der Bushaltestelle neben der King’s School aus vorbeifahrenden Bussen von Schülern der benachbarten Deacon’s School, sich mir regelmäßig erhobene Mittelfinger entgegenstreckten, was sich jedoch später als ein gebräuchlicher Gruß herausstellte, der mit selbiger Zeichengebung oder mit verständnisvollem Lächeln beantwortet wurde. Denn die King’s School befindet sich unter den zehn besten Comprehensive Schools Englands.
In der Folgezeit schloss ich erste Kontakte mit Einheimischen, machte erste Bekanntschaften mit dem sagenumwobenen schwarzen Humor und nahm als Unterprimaner, oder Schüler der Lower Sixth die ersten Unterrichtsstunden in den Fächern History, English Language and Literature, Geography, Music, General Studies und Physical Education. Ich spielte außerdem im First Orchestra unter Mr. Nicholas Kerrison, was einen Riesenspaß machte und erwies mich dort als grauenvoller Übersetzer deutscher Spielanweisungen, welche in meiner Übersetzung häufig den Räten des delphischen Orakels ähnelten. Außerdem lernte ich an der King’s Leute kennen, die aus unerklärlichen Gründen Gürtel um ihre Köpfe geschnallt trugen und sich dabei auf Platon beriefen, aber auch einigermaßen Normale, mit denen ich in den Pausen, wenn es einmal nicht regnete, auf der Schulwiese Cricket oder Rugby, allerdings ohne allzustarken Körpereinsatz, spielte.
Gerade musikalisch war die Zeit für mich sehr interessant: Zusammen mit dem eingangs erwähnten James, der mich zu seinem Geburtstag in sein idyllisch verträumtes Dorf aus kleinen, grobsteinern Häusern, die in der Dämmerung unterhalb einer schief umrissenen Kirche lagen, eingeladen hatte, fuhr ich mit zwei weiteren Freunden nach dem Essen in die Innenstadt zu einem Konzert des Musikers Martin Grech und seiner Band, welches mich sehr beeindruckte. James lud mich darauf zu einer acoustic session in einen gemütlichen Pub namens Millstone Inn ein, zu der jeder, der ein Instrument beherrschte, hinkommen konnte, um Lieder zu spielen oder in einem Blues zu improvisieren, worin ich mich dann auch versuchte. So traf ich zum erstenmal auf den Jazz und besuchte darauf ein Konzert im renomierten Peterborough Jazz Club. Manchmal spielte ich auch mit Tom, dem Geiger, kleine Duette in den Schulpausen und Freistunden oder setzte mich in die Schulbibliothek und informierte mich über das verflucht komplizierte Regelwerk des Cricket.


Was nun geblieben ist, in der Erinnerung, die sich jetzt schon mehr all ein Jahr zurückdehnen muss, ist nicht allein das beschriebene Bruchstück einer seltsamen Romantik - das Warten auf den Doppeldeckerbus im morgendlichen Nebel oder die Rückfahrt durch herbstliche Abende -, vor allem sind es die Menschen, die ich erfahren habe, das Andere und Unbekannte oder das Komische und Liebevolle, und, ohne in eine allzu eindringliche Selbstreflexion zu geraten, war es eine Zeit, in der ich so viel gelernt habe wie sonst nie.


Max Zanders, Jgst. 12 (04/05)