Das Phänomen des Alterns: Produkt der Umwelt oder genetisches Programm?

Es ist nun fast ein halbes Jahrhundert vergangen, seit der Wissenschaftler Dr. Denham Harman eine bahnbrechende Alterstheorie veröffentlichte, die erstmals weltweit für reges Interesse sorgte.
Sicherlich gab es auch schon vorher Versuche, eine Antwort auf das „Wie" des Alterns zu ermitteln; doch wurde den bisherigen Theorien nicht die nötige Anerkennung entgegen gebracht.
Harman dagegen gelang mit seiner Theorie der freien Radikale der absolute Durchbruch auf gerontobiologischer Ebene.
Am Anfang seiner Untersuchungen ging er davon aus, dass bei enzymatisch beeinflussten  Stoffwechselprozessen des Körpers molekulare Bruchstücke entstehen, und vertrat darüber hinaus die Meinung, dass diese in gewisser Weise eine Ursache für den Alterungsprozess sein könnten.
Einige der Nebenprodukte, die aus solchen chemischen Reaktionen resultieren, besitzen ein ungepaartes Elektron, wodurch Proteine, DNA, Fette und andere Moleküle im Organismus oxidiert werden können. Die Folgen solcher Oxidationsreaktionen sind Schäden an den körpereigenen Molekülen. Harman bezeichnete die Verursacher-Moleküle dieser zerstörerischen Prozesse als freie Radikale.
Diese Geschosse zeichnen sich besonders durch ihre hohe Reaktivität aus, da sie im Stande sind, mit nahezu allen Substanzen des menschlichen Organismus zu reagieren.
Aber nicht nur die hohe Reaktivität stellt für den Körper ein Problem dar, sondern auch die Tatsache, dass sie regelrechte Radikalkettenreaktionen auslösen können, indem sie zur Spaltung eines anderen Moleküls führen, wobei weitere Radikale entstehen.
Um nun diesem zerstörerischen Werk entgegenzuwirken, besitzt unser Körper Abwehr- und Reparaturmechanismen, die in der Lage sind, den angerichteten Schaden zumindest einzuschränken. So werden im Organismus sogenannte Antioxidantien gebildet, die eine chemische Reaktion mit den hochreaktiven Molekülen eingehen können, ohne dabei selbst in eine hochreaktive Verbindung überführt zu werden. Deshalb spricht man auch häufig in Bezug auf Antioxidantien von Radikalfängern.
Dabei muss man zwischen zwei Radikalfängergruppen differenzieren: zum einen den endogenen Radikalfängern, die vom Körper selbst produziert werden (funktionelle Gruppen wie solche, die als SH-Gruppen Schwefel und Wasserstoff enthalten, oder Enzyme wie die Katalase, Superoxiddismutase, die eine Zersetzung oder Umlagerung der Radikale bewirken), und zum anderen den exogenen Radikalfängern, die von außen, z.B. durch Nahrung (Vitamin C, E, Beta Carotin) an den Körper herangetragen werden müssen.
Leider wurde jedoch auch inzwischen festgestellt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein freies Radikal auf einen Radikalfänger stößt, bevor es einen Schaden anrichten kann, relativ gering ist.
Bei der Suche nach anderen Möglichkeiten, den bei normalen Stoffwechselprozessen entstehenden freien Radikalen „zu Leibe zu rücken“, stellte Harman des weiteren fest, welche Substanzen eigentlich diese hochreaktiven Prozesse auslösen. Bei diesen Substanzen handelte es sich um Stoffe, die nur von außen an den Körper herangetragen werden konnten, wie Nikotin, Ozon, Gammastrahlen, Mikrowellen, UV-Licht usw..
Aus dem Grund waren nach seiner Ansicht exogene Faktoren die Hauptursache des Alterns, weil diese durch die Bildung der freien Radikale den Verschleiß des Körpers hervorrufen. Damit wurde Harman zum Vater der Fehler- und Verschleißtheoretiker der Gerontobiologie.
Allerdings wurde dieser Erklärungsversuch des Alterungsprozesses bereits wenige Jahre später durch den Biologen Dr. Leonard Hayflick widerlegt, der das Altern auf zellulärer Ebene untersuchte und damit das Gebiet der Cytogerontologie begründete. Hayflick beschäftigte sich vor allem mit der Frage, ob das Altern nicht doch eher eine angeborene Eigenschaft des menschlichen Organismus sei, und wurde so zum Begründer der Programmtheorien der Altersforschung, die sich auf das „Wie“ des Alterns eine Antwort aus den Genen, d.h. durch die Wissenschaft der Genetik, erhoffen.
Hayflicks Versuchsobjekte waren Bindegewebszellen, sogenannte Fibroblasten, von denen man dachte, dass sie unbegrenzt teilungsfähig seien. Allerdings stellte der Biologe fest, dass diese menschlichen Zellen nur eine begrenzte Teilungszahl hatten, die bei etwa 50 Verdopplungen lag. Als die von ihm untersuchten Zellen die maximale Zahl ihrer Verdopplungen, das sogenannte „Hayflick-Limit“, erreichten, machte er die Beobachtung, dass die Zellen nach und nach abstarben. Anhand dieser Beobachtung gelang es ihm, zu belegen, dass alle Lebensvorgänge von Zellen eine begrenzte Dauer haben, die nicht temporal, sondern anhand der Teilungszahl feststellbar ist.
Nun stellte sich ihm jedoch weiterführend die Frage: Wo befindet sich dieses „Zählwerk“?
Bei einem weiteren Experiment ging er die Klärung dieser Frage an. Er arbeitete mit einer alten Zelle, die 40 Verdopplungen, und einer jungen, die erst 20 Verdopplungen hinter sich hatte, denen er jeweils den „älteren“ bzw. den „jüngeren“ Zellkern einpflanzte. Dabei beobachtete er, dass die Zelle, die nun den „jüngeren“ Kern in sich trug, sich noch ca. 30 mal teilte, während die Zelle mit dem „alten“ Zellkern bereits nach 10 Verdopplungen starb. Somit wusste er, dass sich das „Zählwerk“ im Zellkern der Zellen befindet.
Nachdem man nun also das sogenannte „Hayflick-Limit“ der Zellverdopplungen und deren Ort gefunden hatte, dachte man lange, dass somit unsere biologische Uhr unaufhaltsam weitertickt, bis die „Zeit“ gekommen sei. Und abgesehen von Bakterien als einzelligen Organismen kannte man bis dahin keinen mehrzelligen, der die Hayflick-Zahl durchbrechen konnte.
Jedoch schaffte es 1973 der sowjetische Wissenschaftler A.M. Olownikow, diese Grenze mit einem bestimmten Enzym, der Telomerase, zu durchbrechen:
An den Enden der Chromosomen befinden sich spezifische DNA-Endstrukturen, die als Telomere bezeichnet werden. Die Telomere sind für die Gerontologen interessant, da zwischen ihrer Länge und dem Alterungsprozess direkte Zusammenhänge gefunden wurden. Experimente in Zellkulturen ergaben, dass ihre Länge mit jeder Zellteilung abnimmt. Verkürzte Telomere sind für Seneszenzerscheinungen charakteristisch. So kann man von der Länge der Fibroblasten-Telomere direkt auf das Alter der Lebewesen, auch des  Menschen, schließen. Unsere Telomere sind zu Zeiten der Geburt etwa 10.000 Basenpaare, im hohen Alter von 100 Jahren aber nur noch etwa 5.000 Basenpaare lang.
Allerdings stünde die Natur vor einem Problem, wenn die Verkürzung auch bei Keimzellen und Blutstammzellen eintreffen würde, da so eine Übertragung von Erbinformationen von einer auf die nächste Generation aufgrund der sich während des Lebens ergebenden Chromosomenverkürzung nicht mehr möglich wäre.
Die Telomerase hat hier eine prophylaktische Funktion, da sie die Telomeren wieder verlängern kann. Außerdem hat die Enzymaktivität der Telomerase zur Folge, dass Zellen sich unendlich häufig teilen können. Somit sind jene Zellen, in denen die Telomerase einer Verkürzung der Telomeren entgegen wirkt, unsterblich, und damit konnte die Hayflick-Grenze einer im Genom einprogrammierten Verdopplungszahl von Zellen erstmals durchbrochen werden.
Natürlich heißt das nicht, dass wir nun unsterblich werden können, denn der Alterungsvorgang wird lediglich hinausgezögert. Heute existieren zwar Maßnahmen und Mittel, wie Hormon- oder Anti-Aging-Therapien, bei denen beispielsweise Hormonpillen eingenommen werden, die die Regeneration des Körpers fördern sollen, allerdings befinden sich diese Methoden erst in den Kinderschuhen und können das Altern zwar verlangsamen, jedoch nicht verhindern. Der Traum vom Jungbrunnen und dem ewigen Leben scheint somit noch in weiter Ferne zu sein.
Letztendlich ist der menschliche Organismus nicht dazu geschaffen, unsterblich zu sein, und dementsprechend ist es auch nur legitim, den Alterungsprozess als Defizitmodell zu bezeichnen.
Auf die Frage, ob nun die Programm- oder doch eher die Verschleißtheoretiker die richtige Antwort auf das Rätsel des Alterns gefunden haben, kann ich nur entgegnen, dass die eine Theorie die andere nicht unbedingt ausschließt. So könnte doch die Antwort eine Kombination aus beiden Hypothesen darstellen, indem sich die Alterungsfaktoren und Komponenten beider Theorien im Zuge der Zeit summieren, bis der Körper den verschiedenen Einflussfaktoren der Natur unterliegt und stirbt.
Darüber hinaus stellt sich mir für den Versuch, mit allen möglichen Mitteln den Alterungsprozess hinauszuzögern, die Frage, ob das Leben im hohen Alter noch lebenswert ist. Der Biotechnologe Manfred Reiz hat das meiner Meinung ganz treffend formuliert: „Ziel kann nicht sein, dem Leben Jahre anzuhängen, sondern den Jahren Leben zu geben.“ Denn was bringt dem Menschen ein Rekordalter, wenn ihm keine Lebensqualität gewährleistet werden kann? Unsere Wunschvorstellung entspricht doch weniger dem hohen Alter an sich als eher dem Wunsch, ein hohes Alter zu erreichen, ohne irgendeine das Leben erschwerende Degenerationserscheinung zu erleiden.

 

Natascha Yakoo, Abitzurjahrgang 2005