Reif für die Insel - Vier Monate England

Dienstag, 5. September 2006. Die typisch englische Landschaft flog am Zugfenster vorbei, und ich kam mir beinahe vor wie auf dem Weg nach Hogwarts. Doch als die Anzeige im Zugabteil "Nächster Halt Peterborough" verkündete, wichen meine Fantasien von englischen Landschaften und Harry Potter heller Aufregung. Lange vor Antritt der Reise hatten mich schon tausende von Fragen über meine Zeit in England beschäftigt, und nun war es endlich so weit. Der Zug erreichte den Bahnhof von Peterborough und ich machte mich auf die Suche nach meiner Gastfamilie. Plötzlich tauchten aus dem Gewimmel eine blonde, sehr aufgeregt wirkende Frau mit einem ebenfalls blonden Jungen auf, die mich fragend ansahen, und mich schließlich mit dem Worten "Are you Julia?" als ihre neue Gastschülerin identifizierten. Nach einigen angeregten Gesprächen ging es auch schon weiter zur King's School, wo mich im schuleigenen Bekleidungsgeschäft das erahnte Unheil erwartete: Die Schuluniform. Bei der Anprobe stellte sich automatisch der erste Gedanke einer jeden deutschen Schülerin ein, die so etwas anziehen soll. "Was für ein Kartoffelsack!" Besagte Uniform bestand aus einem etwas über knielangem Kilt, einer bordeauxrot-weiß-gestreiften Bluse und einem bordeauxroten Blazer. Nun, da ich die Uniform hatte, machten wir uns also auf den Weg zur Moor Farm, dem Bauernhof der Familie Jacobs. Schon bald war Peterborough nicht mehr zu sehen. Stattdessen machten sich nun mehrere Dörfer am Horizont breit. Erst, als ich dachte, wir seien nun endgültig am Rande der Zivilisation angekommen, tauchte am Ende einer schmalen Straße die Farm auf. Dort lernte ich dann den Rest der Familie, außer meinen Gasteltern Judith und Andrew bestehend aus deren Kindern Jessica, Robert, Pamela und Rosie kennen. Auch die 150 Kühe, 80 Hühner, vier Katzen, zwei Hunde und die Ziege wurden mir im Laufe des Tages vorgestellt. Am Ende meines ersten Tages gab es dann ein "traditonal english roast dinner". Am nächsten Morgen stieg die Spannung dann beinahe ins Unendliche. Mein erster Tag an der King's School begann mit einem feierlichen Eröffnungsgottesdienst in der Kathedrale, einer Schulversammlung und meiner ersten "form time", zu deutsch "Klassenzeit". Die Schüler einer Klasse, bestehend aus 12ern und 13ern lernten sich gegenseitig kennen, man unterhielt sich, und für neue Schüler der Schule, zu denen neben einigen Mädchen der Peterborough High auch ich gehörte, wurden die Regeln und Gebräuche erklärt. Ein Mädchen aus meiner Klasse führte mich in meiner neuen Schule herum, und schon war der erste Tag rasch vergangen.
Am zweiten Tag hatte ich dann zum ersten Mal Unterricht in den Fächern General Studies, French, Music und Drama.
Besonders im Musikunterricht hatte ich anfangs Schwierigkeiten, am Unterricht teil zu nehmen, da mir einfach das notwendige Fachvokabular fehlte. Während der ersten Stunden fühlte ich mich also von einer großen, unbekannten Sprachmasse umgeben, aus der hin und wieder ein paar bekannte Wörter auftauchten. Für das musikalische Fachvokabular erstellte ich mir eine Liste, in der die englischen Begriffe mit den deutschen Übersetzungen enthalten waren, und so stellte das Fach Musik bald kein Problem mehr dar, wohingegen ich nun im deutschen Musikunterricht immer wieder die englischen Fachwörter umschreiben muss, um zu erfahren, was sie auf deutsch heißen. Der Drama-Unterricht, im deutschen vielleicht zu umschreiben mit Schauspiel und Theaterwissenschaft stellte in den ersten Wochen ebenfalls eine Herausforderung dar. Hier war nicht nur das Lesen, sondern auch das Verständnis komplexer Texte, die richtige  Betonung und die schauspielerische Darstellung gefragt. "Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui" von Brecht war noch recht gut zu bewältigen, als es jedoch an Henrik Ibsens "Ein Puppenheim" ging, scheiterte ich an der Sprache des viktorianischen England. Auch die freie Improvisation war anfangs eine Schwierigkeit, und ich erfuhr, wie es sich anfühlt, eine Idee zu haben, sie mittteilen zu wollen, aber nicht zu wissen, wie. Eine willkommene Entspannung war hier der Französischunterricht, in dem nicht viel englisch gesprochen wurde.  Dort kam ich in den Genuss, die Verwandtschaft dreier Sprachen zu entdecken, und Wörter herleiten zu können, die dem Deutschen ähneln, mit deren Verständnis Engländer Probleme haben.
Das Problem mit den unbekannten Wörtern löste ich, indem ich eine Woche lang alle unbekannten Wörter aufschrieb und am Ende der Woche alle Wörter nachschlug. Aus der anfangs großen, unbekannten Sprachmasse tauchten also mit der Zeit immer mehr bekannte Wörter auf, und am Ende sah ich mich von einer bekannten, alltäglichen Sprache umgeben, in der nur hin und wieder Wörter auftauchten, die ich nicht verstand.
Ein weiteres Unterrichtsfach, das ich außer meinen vier Fächern besuchte, war der Deutschunterricht. Allerdings fungierte ich hier nicht als Schülerin, sondern als eine Art Sprachassistentin. Gemeinsam mit der Deutschlehrerin Mrs Hogg erarbeitete ich mit den älteren Schülern Texte, erklärte ihnen die Bedeutung deutscher Wörter und half  bei Übersetzungen und der Aussprache. Trotz der teilweise demotivierten Schüler hat es immer Spaß gemacht, sich mit englischen Schülern im Konflikt mit der deutschen Sprache auseinanderzusetzen. Dass hier und da seitens der englischen Schüler wenig Motivation da war, lag vor allem daran, dass sich die Schüler mit Begriffen aus Sachtexten überfordert sahen. So kam beispielsweise die Frage auf  "Julia, what does Bruttosozialprodukt mean?" oder "How would you describe Werteverfall?"
Unübersehbar war für mich anfänglich die Tatsache, dass in der zwölften Klasse einer englischen Schule nur eines zählt: Sorgfältige Arbeit, Engagement und intensive Vorbereitung auf den im nächsten Jahr folgenden Schulabschluss. In den darauffolgenden Wochen und Monaten stellte ich jedoch fest, dass auch Tradition und Zusammenhalt auf King's eine sehr große Rolle spielten. Aber auch die Disziplin kam auf keinen Fall zu kurz: Es gab keinen Schüler, der nicht irgendwann mal von einem Lehrer oder dem Schulleiter höchstpersönlich auf dem Flur angehalten und auf den falschen Sitz seiner Uniform aufmerksam gemacht wurde. Immer wieder hörte man den Satz "Stopf deine Bluse in den Rock! Du als Oberstufler solltest dich verpflichtet sehen, jüngeren Schülern ein Vorbild zu sein!" durch die hohen Flure schallen. Doch auch der Ablauf eines englischen Schultages wurde bald zum Alltag: Um 8.35 Uhr hat jeder Schüler zur "Registration" bei seinem Klassenlehrer zu sein, um sich per Computer in das Schüler-Erfassungs-System einzutragen. Danach gibt es fast jeden Tag eine Versammlung. Jeweils einmal pro Woche eine Hausversammlung, in der sich die vier Häuser der Schule untereinander treffen, eine Jahrgangsstufenversammlung, und zweimal pro Woche eine Schulversammlung, in der sich die ganze Schule in der Halle trifft. Hier wird darauf geachtet, dass alle Schüler aufstehen, wenn der Schulleiter mit einem Talar bekleidet die Halle betritt. Danach werden die Neuigkeiten verkündet, was also das bei uns übliche schwarze Brett und den Vertretungsplan ersetzt, und auch um das tägliche Gebet samt Lied oder Schulhymne kommt niemand herum.  Anschließend ist von 9.00 Uhr bis 11.35 Uhr Unterricht, gefolgt von der 25-minütigen "Morning Break". Nach zwei weiteren Stunden folgt die einstündige "Lunch Break", und nach den beiden letzten Stunden ist um 15.40 Uhr die Schule endlich beendet. Eine für mich anfangs unangenehme Seite am englischen Schultag ist die Tatsache, dass man als Schüler der Unterstufe, Mittelstufe und der Unterprima in Freistunden nicht nach Hause gehen darf. Diese Stunden zählen stattdessen als "Private Study", während derer man verpflichtet ist, seinen schulischen Aufgaben nachzugehen. Ein willkommener Ort hierfür ist die Schulbibliothek, in der man von Büchern über Zeitschriften bis hin zu Informationen über Universitäten des Landes und Computern mit Internetanschluss einiges an Beschäftigungsmöglichkeiten findet. Besonders interessant fand ich die Tatsache, dass innerhalb der Schule sowohl in der Kantine, als auch an Getränkeautomaten der Verkauf nur durch die sogenannten "Swipecards" erfolgt. Hierbei handelt es sich um eine Art Kreditkarte, die die Schüler im schuleigenen "Finance Office" aufladen können um anschließend innerhalb der Schule damit zu bezahlen. Auch die Anreise der Schüler ist auf King's anders als bei uns. Dass Schüler wie bei uns mit dem Fahrrad zur Schule kommen, kam kaum vor. Stattdessen hatten die meisten Schüler eine Anreise von über einer halben Stunde mit dem Bus, und ich habe mich während meines Aufenthaltes mit vielen Schülern unterhalten, die jeden Morgen mindestens eine Stunde Busfahrt zurücklegen, um zu einer der zehn besten comprehensive schools Englands zu gelangen. Entsprechend spät war man abends zu Hause, sodass einem, nachdem man Hausaufgaben, Facharbeiten und Referate vorbereitet hat, nur noch einige Abendstunden bleiben. Solche Abendstunden nutzte ich einige Male, um einen in England entwickelten Modetanz, den Ceroc, eine Kreuzung aus Jive und Salsa kennen zu lernen.
Selbstverständlich gibt es auch in England Herbstferien, die ich dazu nutzte, mich etwas im Land umzusehen. Gemeinsam mit meinen Eltern besuchte ich die Universitätsstadt Cambridge, Stratford-upon-avon, Geburtsort von Shakespeare, die Steilküste und - selbstverständlich - London.  Auch während des Schulalltages gab es hin und wieder Highlights, wie zum Beispiel den Musikwettbewerb "House Music", in dem die vier Häuser der Schule miteinander wetteiferten, oder die "Sixth Form Socials", Parties für Oberstufenschüler.
Während der letzten Wochen meines Aufenthaltes verging die Zeit dann wie im Flug und, obwohl ich mich auf mein deutsches Zuhause freute und mir die englische Küche samt des ständigen Trubels auf der Farm doch langsam auf die Nerven ging, wäre ich gerne noch länger auf King's zur Schule gegangen. An den langen Schultag konnte ich mich gewöhnen, und auch die anfangs so verhasste Uniform hatte ich so lieb gewonnen, dass sie nicht so ohne weiteres zurück gelassen werden konnte.
Das allerdings war ein einmaliges Erlebnis, das auch einmal zu Ende gehen muss. Ich habe viel über den Schulalltag, Land und Leute und die Sprache gelernt. Außerdem habe ich so viele neue Menschen kennen gelernt und Erfahrungen gemacht, dass ich das Gefühl hatte, in meinem Leben noch nie soviel gelernt zu haben wie während dieser vier Monate.
Julia Gasche, Kl. 11b